Jigs und Reels, Fiddle Tunes, Stepptänze und gälische Lieder: Beim neuntägigen Celtic Colours Festival auf Cape Breton Island erlebt die Insel im Norden Nova Scotias den musikalischen Ausnahmezustand.
Pünktlich um 23 Uhr steht er bereit, der kürbisgelbe Highschoolbus. Als Shuttle fährt er über die Insel Cape Breton. Von Sammelpunkt zu Sammelpunkt. Öffnen sich seine Türen, dringen fetzige Partymelodien hinaus in die Nacht. Fahrgäste steigen ein und lassen sich sofort von der Stimmung im Bus mitreißen. Gerade jetzt läuft “YMCA”. Alle singen fröhlich den alten Gassenhauer mit. Auch ich. Wir sind auf dem Weg zum Gaelic College in St. Ann’s im Zentrum von Cape Breton. Hier finden während des Celtic Colours Festivals die legendären Festival Nights statt. Dann spielen die Musiker informell, spontan und oft mitreißend. Bei unserer Ankunft ist das Gaelic College bereits gut gefüllt. An der Bar drängt es sich. Der Typ vor mir bestellt einen “Cereal Killer”. Was ist das denn? „Ein Stout Bier aus Hafermehl! Musst du mal probieren!“, schreit er mir ins Ohr und verschwindet im Saal. Dort bereiten sich die ersten Musiker für ihren Auftritt vor.

Celtic Colours gehört zu den größten Folkfestivals Nordamerikas. An den neun Festivaltagen finden gut 300 Folkkonzerte, Workshops und Jam Sessions auf der gesamten Insel statt – und eben die legendären Festival Nights. Jetzt betritt Tänzer Nic Gareiss die Bühne. Im Gepäck hat Nic eine Band, in der alles vertreten ist, was zum keltischen Liedgut gehört: Gitarre, Geige, Mandoline, Flöte, Bodhran. Es dauert nicht lange, bis der junge Tänzer wilde Percussionlaute in den Boden steppt, sich danach ein kleines Improvisationsduell mit der Geige liefert und die ekstatischen Jubelrufe des Publikums mit breitem Lächeln quittiert. Wahnsinn!

Danach löst ihn Lokalmatador Mac Morin ab. Der Mann mit den schwarzen Locken ist ein wahrer Alleskönner. Er lässt den Bogen über die Saiten der Fiddle hüpfen und legt lässige Steppeinlagen hin. Doch seine wahre Meisterschaft offenbart sich, als er am Piano seine Finger über die Tasten fliegen lässt. Wer hätte gedacht, dass man dort Tonfolgen spielen kann wie auf einer Geige? Es ist zwei Uhr nachts. Die Stimmung kocht. Immer mehr Leute tanzen, andere stärken sich in der Cafeteria. Um vier Uhr fährt der letzte Shuttlebus. „Feiern“, ruft einer der Einheimischen fröhlich und hebt sein Glas, „das gehört einfach zu unserer schottischen Tradition. Willkommen auf Cape Breton!“

Am nächsten Tag fahre ich, noch ziemlich gerädert von der letzten Nacht, nach Judique ins Celtic Music Interpretive Center. Das Center dokumentiert die Geschichte der keltischen Musik auf Cape Breton. Dort erfahre ich, dass die keltische Folkmusik ihre Wurzeln in der musikalischen Tradition der Schotten hat, die vor 250 Jahren Cape Breton besiedelten. Mittags finden im Celtic Music Center die Céilidhs statt: spontane Zusammenkünfte des gemeinsamen Musizierens und Geschichtenerzählens. Es ist ruhiger als bei der ausgelassenen Partynacht in St. Ann’s, doch nicht weniger schön. Zwei Musiker spielen Lieder der Insel, dazu lassen sich die Gäste kulinarische Spezialitäten wie Hummer und frischen Fisch schmecken.

Am Tisch sitzt Dan Coffin aus Baddeck. „Wegen unserer Insellage lebten wir lange isoliert. Dadurch blieb die schottische Kultur hier so lebendig“, erklärt mir der 40-jährige PR-Berater. Zu dieser Kultur gehört auch die Fiddle, die aus der Musik von Cape Breton nicht wegzudenken ist. Sie erklingt auch hier. Aus dem Nebenraum. Patricia, Marianne und Jo aus Ontario haben sich eine herumliegende Übungsgeige geschnappt und fiddeln munter drauflos. Schön. Schön schief. Lautes Gekicher der drei Damen. Das Celtic-Colours-Festivalfieber und die beschwingte Stimmung hat auch die Damen gepackt. Ihr Terminkalender ist gefüllt mit Workshops und Konzerten. Doch nicht nur die Musik begeistert sie. „Die Menschen hier! Sie sind unglaublich herzlich und gastfreundlich. Wenn man einmal einen Freund auf der Insel gefunden hat, dann fürs Leben“, schwärmt Marianne. Und Patricia fügt hinzu: „Nächstes Jahr kommen wir wieder!“ Nicht nur sie – ich auch!