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Niagarafälle: Rosa durch die Waschstraße

Niagarafälle: Rosa durch die Waschstraße

Ontarios Niagarafälle erlebt man am besten mittendrin, auf einem Katamaran von Hornblower Niagara Cruises und wasserdicht verpackt in einen Plastikponcho. Nirgendwo sonst in Kanada fällt Wasser majestätischer. Und bessere Geschichten erzählt sowieso kein anderes Naturspektakel ..

 

Plötzlich ist es still. Nicht richtig still, wie denn auch, bei diesem Getöse um das kleine Boot herum – doch die Menschen an Bord sind schlagartig verstummt. Kurz zuvor haben mehrere Hundert in rosafarbene, wasserdichte Plastikponchos gekleidete Passagiere der “Niagara Thunder” ihre Liebsten lautstark rufend in die beste Fotoposition dirigiert – „weiter nach links … noch weiter … Stopp!“ –, haben sich mit ihren Ellenbogen in kleine Lücken in der dichten ersten Reihe an der Reling geschoben und bei jeder Gischtwelle freudig-erschrocken gejauchzt wie die Schlümpfe auf Schulausflug. Zeitgleich hat eine Lautsprecherstimme über ein stadionkompatibles Boxensystem ununterbrochen “Wissenswertes über die größte Attraktion Kanadas” mitgeteilt. Jetzt aber ist es still. An Bord zumindest.

Die Boote von Hornblower Niagara Cruises haben die Schifflein der "Maid-of-the-Mist"-Flotte abgelöst.

Der Kapitän hat die Motoren mitten im Halbrund der Horseshoe Falls gestoppt. Die “Niagara Thunder” schlingert nun mucksmäuschenstill zwischen den herabdonnernden Wassermassen. Vorne, links, rechts, oben, unten, überall ist Wasser. Und was da auf die Ponchos prasselt, ist längst nicht mehr der feine Sprühnebel wie aus dem Zerstäuber, der den Schifflein des Vorgängerunternehmens “Maid of the Mist” ihren Namen gab. Jetzt wird man wirklich nass, klatschnass. Die Wasserwände um das Boot schäumen. Oben, am Horizont spannt sich ein Regenbogen. Nach ein paar Minuten in diesem atemberaubenden Schauspiel dreht das Boot ab, weg von den Fällen. Leise flattern die Ponchos im Wind. Die Passagiere schweigen  ergriffen.

 

Täglich fahren Tausende Besucher mit den beiden Hornblower-Katamaranen hinaus zu den Fällen. Auf der Hinfahrt ist an Bord immer der Teufel los. Alle sind völlig aus dem Häusschen vor Aufregung. Auf der Rückfahrt hingegen scheint es oft, als habe man einen Teil der Passagiere verloren, so ruhig ist es. Dann gibt es auch keine Lautsprecherdurchsagen mehr. Den Eindruck dieses Naturschauspiels verarbeitet man am besten im Stillen.

Mit rosa Plastikponcho ins tosende Inferno!

Zum Glück haben die Passagiere auf der Hinfahrt schon jede Menge Lexikonwissen von den Lautsprechern erzählt bekommen und sind quasi längst Niagara-Experten. Sie wissen zum Beispiel, dass die Fälle die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen: Goat Island, eine kleine Insel im Niagara River, teilt das strömende Wasser. Deshalb krachen ein paar Hundert Meter vor den fast 800 Meter breiten kanadischen Horseshoe Falls auch die weit weniger eindrucksvollen und nur etwa halb so breiten American Falls hinab. Beide Wasserfälle sind zwar kaum mehr als 50 Meter hoch (weltweit gibt es fünfzig höhere Wasserfälle!), besonders die Niagarafälle bestechen aber durch ihr breites Panoramaformat. In ihrer bildfüllenden Breite werden sie  nur von den Victoria Falls in Zimbabwe übertroffen.

 

Solche Fakten erfährt man unterwegs. Und weitere Geschichten. Von tollkühnen Männern in ihren fliegenden Fässern, die sich die Fälle hinabstürzten – und die längst in Vergessenheit geraten sind. Wer hat schon von „Blondin, dem Seiltänzer“ gehört? Der 1851 ein komplettes Abendessen auf einem Seil über den Fällen zubereitete und seine Omelettes anschließend zu den Passagieren der damals schon betriebenen “Maid of the Mist” hinunterwarf? Und wer weiß heute noch vom todesmutigen Seiltanz, zu dem “Signore Farini” ein Jahr später antrat, komplett verpackt in einen Kartoffelsack?

Weiss und groß und nass: Im Rund der Horseshoe Falls.

Die Niagarafälle kümmerte das alles nicht. Nur an einem Tag schienen sie sich dem Trubel zu widersetzen. Am 28. März 1848 trockneten sie aus. Einfach so. Es wurde ruhig und still an diesem Frühlingstag, und auf einmal floss bis auf ein müdes Rinnsal kein Wasser mehr über die Klippen. Die ersten Stunden fanden die Menschen das amüsant und sammelten Souvenirs auf dem Grund: Gewehre, Münzen, Tomahawks. Abends aber versammelten sich die Menschen in der Kirche und glaubten, das Ende der Welt stehe bevor. Unmittelbar nach der Predigt röhrte und grollte es draußen, die Luft vibrierte – und das Wasser war zurück. Dass es für diesen Vorfall physikalische Gründe gab (am Erie-See blockierten große Eisschollen den kompletten Zufluss), wollte zumindest der Pfarrer nicht glauben. Seine überlieferten Schlussworte im Gottesdienst lauteten: „Danket dem Herrn, denn er hat das Wasser zurückgeschickt! Das Wasser, das uns Besucher bringen wird, von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Amen.“

Fast ebenso so nah kommt man den Fällen auf der "Journey behind the Falls".