Neufundlands Osten – von Mistaken Point nach Trinity
Die älteste Stadt und der östlichste Punkt Nordamerikas, die besterhaltensten Fossilien, die meisten Eisberge, Wale und tollpatschigsten Papageientaucher – der Osten Neufundlands ist eine Region der Superlative. Von kulinarischen Höhepunkten in St. John’s zu historischen Dörfern, Naturreservaten, Top-Küstenwanderwegen und abenteuerlichen Bootstouren gibt es alles, bloß keine Langeweile.
Es stimmt: St. John’s, Provinzhauptstadt von Neufundland und Labrador, ist die älteste Stadt Nordamerikas. Eine Stadt, die für farbenfrohe Holzhäuser, eine dynamische Food-Szene und die George Street steht – der Hotspot, um sich mit neufundländischer Partyszene vertraut zu machen. Was Marconi nicht tat, als er 1901 das erste transatlantische Radiosignal im Cabot Tower auf Signal Hill empfing. Der Hügel am Hafen ist St. John’s Wahrzeichen und unschlagbarer Aussichtspunkt, doch eins lässt sich von dort nicht sehen: das Bilderbuchviertel Quidi Vidi, ein Paradies für Bier-Fans. Die Quidi Vidi Brauerei, 1996 in einer Fischfabrik eröffnet, produziert Bier aus Eisbergen! Doch wie kommen Eisberge in eine Flasche? „Neufundland hat Ed King, den Eisberg-Cowboy, der im Sommer täglich zu den Eisbergen rausfährt und Eis erntet. Das wird geschmolzen an uns verkauft.“ Das Eisberg-Bier bestehe zu 98% aus Wasser. Die Chance, es in Deutschland zu finden, steht leider schlecht, denn die Neufundländer trinken alles selbst – jährlich 20 Dutzend Liter Bier pro Kopf.
„There’s no place I’d rather be than here in Newfoundland“
Wer Wanderfreude und Zeit mitbringt, kann die Ostküste von Cape St. Francis bis Cappahayden auf dem 300 Kilometer langen East Coast Trail erwandern. Ein Must-see ist Cape Spear, der östlichste Teil Nordamerikas und erster Sonnenaufgangspunkt. Als wäre dem nicht genug, stehen zwei Leuchttürme da, darunter der zweitälteste Neufundlands von 1836. Toilettenbenutzer sollten sich bewusst sein, dass 1983 bereits Lady Di und Prinz Charles die WCs nutzten, die für sie errichtet wurden. So viel zum „Royal flush“, von dem Ortsansässige gern sprechen. Noch überwältigender ist das Gefühl, auf den Klippen zu stehen und mit Nordamerika im Rücken Eisberge und Wale zu sichten.
Wer den Säugern vom südlich gelegenen Bay Bulls auf einer Bootstour mit Gatherall’s näher kommen möchte, sollte zu Mittag besser kein Lobster-Poutine verputzen, eine kanadische Spezialität aus Pommes Frites mit einer mächtigen Hummersoße. Je nach Stimmung des Atlantiks kommen Passagiere auf dem Weg zur Witless Bay Ecological Reserve ordentlich ins Schunkeln, doch es lohnt sich: Die Wale zeigen sich oft kooperativ und lassen während ihrer Jagd auf Kapelan – im nördlichen Atlantik vorkommende Lachsfische – Fontänen, Schwanz- und Rückenflossen sehen, in perfektem Timing mit klickbereiten Kameras.
Papageientaucher, die neben unzähligen anderen Vogelarten das Reservat besiedeln, sind kompliziertere Fotomodelle. Wie Stehaufmännchen stecken sie die Köpfe aus Höhlen, tauchen wieder ab oder starten Flugversuche, um im Wasser bruchzulanden. Als musikalische Ausflugsgestaltung dient echt neufundländische Mucke: „There’s no place I’d rather be than here in Newfoundland“. Unmöglich, da nicht aus vollem Herzen zuzustimmen!
Seekajaken, Picknicken bei Sturm und fiese Felsen
Es gibt Dinge, die müssen Neufundlandbesucher machen – dazu gehört Seekajaken. „Was, wenn ein Wal uns umwirft?“, lautet eine geläufige Frage. Stan Cook, der braungebrannte Tourguide, winkt ab: „Die Tiere sind nicht blöd!“ Bei der Tour im Zweierkajak in der Bucht von Cape Broyle gibt es einiges zu sehen: einen Wasserfall zwischen Klippen, eine Grotte mit rosa-grün schillernden Wänden, bewaldete Felsen, Möwen und viel blaues und türkisfarbenes Wasser. Im Anschluss gibt es nichts Schöneres als ein Picknick am Ferryland Leuchtturm. Er beherbergt ein Café, doch echte Neufundländer würden beim üblichen „bisschen Wind“ niemals drinnen hocken. Also wird die Sandwich-Bestellung aufgegeben, eine Picknickdecke entgegengenommen und draußen ein Picknickspot an einer weniger als mehr windstillen Stelle gesucht. Zu faustdicken Sandwiches gibt es frische Limonade und unverbautes Klippen- und Atlantikpanorama.
Dagegen lauern ganz im Süden der Avalon Halbinsel richtig gemeine Felsen. Sie machten unzählige Seemänner glauben, sie wären am Cape Race und ließen Schiffe auf Klippen auflaufen. Mistaken Point, Pech gehabt. Selbst die Titanic sank 360 Meilen südöstlich – ihre ersten Hilferufe gingen in der 1904 am Cape Race errichteten Funkstation ein. Ein weiteres Juwel an der Südspitze ist das Mistaken Point Ecological Reserve, wo 1967 die besterhaltensten präkambrischen Fossilien der Welt gefunden wurden. Sollte das Wetter zu schlecht sein, um sich die Originale auf den Felsen anzuschauen, gibt das Interpretation Center Einblick in die Entdeckung. „Es sind die ältesten mehrzelligen Fossilien der Welt, etwa 575 Millionen Jahre alt“, so Edwina Warr, Museumsführerin.
Trinity – ein Flirt mit Eisbergen, Walen und Geschichte
Von Avalon geht es zur Bonavista Halbinsel, wo John Cabot 1497 als erster europäischer Entdecker das nordamerikanische Festland erreichte. Ein Highlight ist die Rugged Beauty Bootstour ab New Bonaventure mit Fischer Bruce Miller. Nirgends zeichnet sich der Umsiedlungsprozess der 1960er Jahre, bei denen Küstenbewohner in die Städte verlagert wurden, deutlicher ab als in verlassenen Dörfern wie Kerley’s Harbour. „Unsere Familien mussten in Städte wie Clarenville umziehen, waren dort vollkommen aus ihrem Element gerissen“, berichtet Bruce. Später war die Bucht Schauplatz mehrerer Filme, darunter „Random Passage“ und „The shipping news“. Mit Bruce macht auch die Jagd auf Eisberge Spaß, doch allzu nah ran fährt er nicht. „90% des Eisbergs können unter Wasser liegen!“ Zeitweilen dürfen Passagiere im Wasser treibende Eisstücke angeln. Wann sonst lässt sich 10.000 bis 25.000 Jahre altes Eis schlecken, das mit dem Labradorstrom monatlich etwa sieben Kilometer weit von Grönland heranschwemmt?
Weiter nördlich gibt es einen Ort, den niemand verlassen wollte: Trinity, heute eine der schönsten Kulturerbe-Gemeinden mit restaurierten Gebäuden aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Etliche können besichtigt werden, darunter das Trinity Museum. Es gibt Einblick in die Geschichte des Dorfes, das heute mehr Besucher als Einwohner zählt. Diese haben die Wahl zwischen gemütlichen Unterkünften, von denen die Niederländerin Tineke Gow das Artisan Inn führt. „Mein Mann und ich kamen Mitte der 70er Jahre hierher und haben uns sofort in Trinity verliebt.“ Das Abendlicht lässt die Fassaden der bunt gestrichenen Häuser erstrahlen, zwischen denen die weiße St.Paul’s Anglican Church thront. Das holzvertäfelte Innere überwältigt mit Wald-Duft – der auch Wanderer auf dem Skerwink Trail verzaubert. Der 5,3 Kilometer lange Rundweg ist der wohl schönste Wanderweg an Neufundlands Ostküste. Auf den Klippen geht es zur „Music Box“, wo die Musik des Windes einmal nicht von Alltagsgeräuschen zerpflückt wird. Mit ein wenig Glück bieten die Aussichtspunkte ein unvergessliches Spektakel: Wale grüßen mit Fontänen. Es stimmt: In Neufundland hat jeder „a whale of a time“!