Der Mount Edith Cavell thront wie ein himmlischer Patron über dem größten Nationalpark der Rocky Mountains.
Es ist ein milder Spätsommertag in den Rocky Mountains und die Natur glänzt in ihren besten Farben. Die Bäume am Straßenrand hängen voller gelber Blätter, die Gräser leuchten rötlich-braun und auf den Berggipfeln rund um Jasper liegt bereits der erste Schnee. Joan Dillon ist bester Laune, als sie in ihren kleinen Bus steigt. “Es ist die schönste Jahreszeit für einen der schönsten Berge Kanadas”, schwärmt sie und braust los.
Joan lebt in Jasper, dem größten Nationalpark in den kanadischen Rocky Mountains, und arbeitet dort als Tourguide. Heute bringt sie mich und eine kleine Gruppe Besucher zum Fuße des Mount Edith Cavell, einen der spektakulärsten Gipfel des Parks, an dem ich mich einfach nicht sattsehen kann.
Mit seinen 3.363 Metern Höhe, seiner schroffen Nordwand und seinen glitzernden, wolkenumschlungenen Eismassen thront der Mount Edith Cavell über Jasper wie ein himmlischer Patron. “Angel Glacier” heißt sein markantester Gletscher ganz passend, denn seine Seitenarme sehen tatsächlich aus wie ein Engel mit ausgespreizten Flügeln.
Eine dreiviertel Stunde dauert die Fahrt vom Dorf zum Berg normalerweise, doch heute tritt Joan schon nach fünf Minuten zum ersten Mal auf die Bremse. “Hier, hier” rufen einige Passagiere und schon kleben unsere Nasen an den Fensterscheiben. Die Kameras surren, die Fotoapperate klicken, die Smartphones blitzen.
Der Stau hat einen tierischen Grund: Eine Herde mächtiger Wapitihirsche stolziert gerade mitten über die Straße, völlig unbeeindruckt von Autos und Bussen. Aus der Distanz wacht ein riesiger Bulle mit prächtigem Geweih über das Geschehen. “Gerade ist Brunftzeit und es ist wohl besser, wir steigen jetzt nicht aus “, lacht Joan.
Tastsächlich lassen sich die Hirsche um diese Jahreszeit schnell reizen. Mindestens drei Buslängen sollten wir Abstand halten, rät Joan und beruft sich auf ihr Familienwissen: “Mein Mann arbeitet als Wildhüter für den Park und glauben Sie mir, der hat schon so einiges gesehen”, sagt sie und tritt wieder aufs Gas.
Auf der “Cavell Road”, einer kurvenreichen Straße mit engen Serpentinen, geht es jetzt etwa 700 Höhenmeter nach oben. Nichts für schwache Nerven also! Doch gleich nach der ersten Kurve stecken wir wieder im Stau: Ein Schwarzbär mit glitzerndem Fell streift am Straßenrand entlang und sucht die Büsche nach Hagebutten ab. Das ‘Ah’ und ‘Oh’ im Bus ist nicht zu überhören.
“Um diese Jahreszeit stopfen sich die Bären den Magen voll, um sich auf den Winterschlaf vorzubereiten”, erklärt Joan und tatsächlich kann dieser hier gar nicht genügend davon bekommen. In aller Seelenruhe mampft er vor sich hin und verschwindet nach ein paar Minuten im undurchdringlichen Gebüsch.
Nach weiteren Haarnadelkurven erreicht unser 12-Sitzer-Bus von “Sundog” schließlich einen Schotterparkplatz am Waldrand und das Ziel ist erreicht: Hoch über uns thront die Steilwand des Mount Edith Cavell, der hier fast 1600 Meter senkrecht nach oben ragt. Der Berg ist mit einer dünnen Lage Neuschnee bedeckt wie ein Kuchen mit frischem Puderzucker.
Wow! Wie wagemutig müssen jene Männer gewesen sein, die diese Wand 1961 erstmals bezwangen! Als sich die Bustüren öffnen, pfeifft uns ein böiger Wind entgegen und die Eismassen scheinen zum Greifen nah. “Vor einigen Jahrhunderten reichten die Gletscher bis hierher”, erklärt Joan. Heute liegt die Zunge des “Angel Glacier” rund einen Kilometer entfernt.
Wir nähern uns dem Gletscher mit dem himmlischen Namen entlang einer Seitenmoräne auf einem gut ausgebauten Weg. “Path of the Glacier” heißt der 1,6 Kilometer lange Pfad und der Name ist Programm: Noch im 18. Jahrhundert war das ganze Gletscher-Becken mit Eis gefüllt. Heute wachsen kleine Bäume zwischen dem Geröll, das die Gletscher hinterlassen haben. Manche Kiefern sind mit Flechten behangen wie ein Christbaum mit Lametta.
“Die Flechten sind die Hauptnahrungsquelle der Bergkaribus”, berichtet Joan. In den tiefen Tälern rund um den Mount Edith Cavell lebt noch eine kleine Herde von etwa 40 Tieren, was einer kleinen Sensation gleichkommt. Denn Bergkaribus sind in den Rocky Mountains vom Aussterben bedroht. Hier oben, unter den schützenden Flügeln des Engel-Gletschers, haben sie eines ihrer letzten Refugien gefunden.
Nach 30 Minuten zu Fuß erreichen wir einen Aussichtspunkt und der Blick könnte spektakulärer kaum sein: Unter uns schimmert der türkisfarbene Gletschersee des Mount Edith Cavell in der matten Sonne wie ein grüner Smaragd und die Abbruchkante des “Angel Glacier” wie ein blauer Diamant. Auf der Wasseroberfläche dümpeln ein paar Eisbrocken vor sich hin.
Die Idylle scheint perfekt – und ist doch trügerisch. In der Nacht zum 10. August 2012 brach hier ein riesiger Brocken Gletscher vom Berg herunter, stürzte in den See und sorgte für eine gewaltige Springflut, die Teile des Weges und des Parkplatzes wegspülte. Das fallende Eis hatte das Volumen von 1400 Autobussen, doch zum Glück kam niemand zu Schaden.
Heute versperren Warnschilder den Weg nach unten und wir kehren zurück zum Parkplatz. Stets an unserer Seite haben wir pfeiffende Murmeltiere, die sich auf freiliegenden Felsen im Geröll sonnen. Auf der gegenüberliegenden Seite scharrt eine zottelige Bergziege nach Wurzeln.
Am Ende des Weges entdecken wir ein steinernes Denkmal mit einem Strauß verwelkter, roter Rosen. Sie sind einem anderen Engel gewidmet: Edith Cavell, der Namenspatronin des Berges. Die britische Krankenschwester hatte sich im Ersten Weltkrieg durch Tapferkeit ausgezeichnet und wurde im Oktober 1915 vom Feind hingerichtet – vor genau 100 Jahren.
Als wir wieder in den Bus steigen, ist die Sonne hinter der Nordwand verschwunden und es ist frostig kalt. Es sind die ersten Vorboten des nahenden Winters, denn schon bald werden hier oben am Mount Edith Cavell die ersten Schneeflocken fallen. Dann wird der Gletschersee zufrieren, die Straße geschlossen und die Engel sind wieder ganz unter sich.